BethlehemDa ein Platz zum Volontärsdasein ja recht wenig ist in einem Jahr, bin ich letzte Woche nach Bethlehem gefahren, um dort für ein paar Tage im
Caritas Baby Hospital zu arbeiten.
Das Caritas Baby Hospital ist ein katholisches Krankenhaus,

das vor allem über Spenden aus der Schweiz, Österreich und Deutschland finanziert wird, und das einzige Kinderkrankenhaus in der Westbank (das heißt, dass es Anlaufstelle für ungefähr eine halbe Million Kinder ist). Pro Jahr werden dort ungefähr 30 000 Patienten behandelt, und zwar auch, wenn sie keine Versicherung und/oder kein Geld haben. Viele der Kinder dort haben Atemwegserkrankungen oder leiden an Unterernährung, aber ein großer Teil von ihnen hat auch genetische Krankheiten, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die Eltern zu nah miteinander verwandt sind.
Ich habe viel Zeit im Playroom mit den Kindern verbracht (was dank meiner sehr bescheidenen Arabischkenntnisse und einer schon früh entwickelten Pascha-Mentalität bei manchen kleinen Jungs eine gewisse Herausforderung war) und konnte mit den Ärzten auf Visite gehen. Es war schon ziemlich heftig, Babys zu sehen, die ein halbes Jahr alt aber noch nicht einen Zentimeter gewachsen waren oder die Zugänge für den Tropf im Kopf hatten, weil an Hand oder Fuß keine passende Vene gefunden werden konnte.
Ich hatte den Eindruck, dass es vor allem in der arabischen Gesellschaft für Menschen mit Behinderung nicht einfach ist: wenn eine Mutter schon 12 Kinder hat und es dem dreizehnten nicht gut geht, kann es schon mal passieren, dass sie es im Krankenhaus abliefert und erst zwei Monate später wiederkommt, wenn es ihrem Kind wieder besser geht (das ist jetzt aber nicht der Alltag, die meisten Mütter sind ihren Kindern nicht von der Seite gewichen und haben auch im Krankenhaus übernachtet). Im Playroom habe ich auch ein 6-jähriges Mädchen kennengelernt, Razan, die an
spina bifida litt, also am sogenannten Offenen Rücken, der untere Teil der Knochen ist nicht zusammengewachsen und darum haben sich die Nerven gar nicht bzw. nicht vollständig gebildet. Sie ist vom Bauch abwärts gelähmt, hat einen Blasenkatheter - und zu heiraten, Kinder zu kriegen und einen Haushalt zu führen, gestaltet sich für sie natürlich etwas schwierig.
Am letzten Tag wurde ich zusammen mit Christian, einem deutschen Medizinstudenten, auf einen Osteoporose-Kongress in Beit Sahour eingeladen, angeblich auf Arabisch und Englisch. Als wir dort ankamen, gestaltete sich das ganze etwas anders, als wir vermutet hatten: der Saal war gerammelt voll mit Frauen, von denen ein Großteil sicher nicht im medizinischen Milieu arbeitete, sie hatten ihre Kinder mitgebracht, rauchten und aßen und hörten nicht ein Wort des 20-minütigen (arabischen) Vortrags über Osteoporose, wurden aber ganz aufmerksam, als danach eine Tombola, Modenschau und Lifemusik folgten. (Wenigstens der Humus war gut).
Gewohnt habe ich in dieser Woche bei einer palästinensischen Familie in Beit Jala (einem Stadtteil von Bethlehem). Faten - die Frau - ist in Deutschland aufgewachsen und wurde mit 20 während eines Heimaturlaubs in Beit Jala verheiratet. Meine Eltern haben sie im Oktober besucht, als sie in Israel waren, und so konnte auch ich dort unterkommen, auch wenn sie die Großmutter in ein anderes Zimmer umquartiert haben. In der arabischen Welt ziehen die Kinder erst aus, wenn sie heiraten, also war auch noch der Sohn Kamal zu Hause, und die Tochter Ursula mit ihren beiden Töchtern Leen und Sana sowie Onkel Ibrahim schauten regelmäßig vorbei.

Ich wurde sehr herzlich empfangen und gleich in ihren Tagesablauf integriert, kaum angekommen, ging es schon wieder weiter zu einer Friedensdemonstration, denn am 1. März 2006 wurde der erste Betonpfeiler für die Mauer gesetzt, die die Westbank umgibt. Bei der Prozession wurde ein großes Holzkreuz vorangetragen, das mit Ölzweigen und einem Palästinensertuch geschmückt war.


Auch alle meine restlichen Abende waren schon verplant worden, und so bekam ich von arabischen Basketballspielen (bei denen sorgfältig abgewogen werden muss, in welcher Mannschaft man mehr Leute kennt und mit wem man besser befreundet ist) über Abendessen mit entfernter Verwandschaft sowie deren Bekanntschaften bis hin zu Geburtstagsfeiern alles mit.

In Beit Jala gibt es übrigens einen Lieferservice, der frische Falafel, Pitabrot und Humus morgens direkt an die Haustür liefert. Daran sollte Nes Ammim sich mal ein Beispiel nehmen, beim letzten Volunteers Meeting wurde uns verkündet, dass es ab jetzt morgens kein Rührei mehr gibt, weil wir zu viel essen und das nicht bezahlt werden kann. Äh, ja.
HebronSamstagabend mussten wir noch ein paar zusätzliche Stühle am Küchentisch unterbringen, eine Freundin von Faten hatte nämlich ein deutsches Geschwisterpaar, Eva und Dominik, im Bus in Beit Jala getroffen, und die sind kurzerhand auch noch bei uns untergekommen.
Am Sonntag bin ich mit ihnen spontan nach Hebron gefahren, was wirklich praktisch war, weil Dominik ein Jahr in Syrien gelebt hat sowie in Ägypten, im Libanon und im Iran war und fließend Arabisch sprechen konnte, was uns nicht nur einen Haufen Straßenhändler vom Hals gehalten, sondern auch zu einem interessanten Gespräch mit einem Ladenbesitzer verholfen hat.
In Hebron wohnen ja nicht nur Palästinenser, sondern auch jüdische Siedler, die das Zentrum besetzt halten. 1998 wurde Hebron verwaltungstechnisch geteilt, in die Zonen
H1 (palästinensisch kontrolliert) und
H2 (israelisch kontrolliert). Inzwischen wurden in Hebron Mauern, Zäune und über 100 Straßensperren gebaut, und wenn man der
ACRI Glauben schenken kann, mussten Palästinenser wegen der Anwesenheit von israelischen Zivilisten und Soldaten um die 1000 Wohnungen räumen und mindestens 1829 Geschäfte und Betriebe im Stadtzentrum aufgeben. Der Schneider, mit dem wir bzw. Dominik gesprochen haben, war trotz allem noch in einem Gebiet nahe des Zentrums geblieben, einfach weil er kein Geld hatten, um so woanders einen Laden zu kaufen. Als wir vorbeikamen, war von den Israelis gerade der Strom abgestellt worden, darum hatte er Zeit, uns seine Schneiderei zu zeigen und Tee zu kochen. Eine Wand war voller Einschusslöcher, angeblich schießen die israelischen Soldaten einfach durchs Fenster hinein, wenn sie abends Licht sehen. Dominik versuchte, große Teile des Gesprächs zu übersetzen, aber als es in eine religiöse Diskussion über Koranauslegung abglitt, konnten Eva und ich nicht mehr ganz mithalten und konzentrierten uns auf unseren Tee. Es war übrigens das erste Mal, dass ich einen Palästinenser habe persönlich sagen hören, dass Hitler zwar ein Verrückter gewesen sei, aber das Problem (die Juden) damals schon ganz gut erkannt hätte.

Schließlich wagten wir uns auch noch ins Stadtzentrum: es ist völlig ausgestorben und heruntergekommen, die Fenster sind kaputt, Balkone hängen halb herausgebrochen aus der Fassade, es ist grau und trist. Man muss schon sehr fanatisch sein, um dort leben und Kinder aufziehen zu wollen.
Auf dem Bild ist (glaube ich) ein Geschäft zu sehen, vor dem jüdische Siedlerkinder spielen, oben drüber steht ein Soldat Wache. Auf dem Schild steht:
Diese Gebäude wurden auf Land errichtet, das 1807 von der jüdischen Gemeinschaft Hebron erworben wurde. DIESES LAND WURDE 1929 NACH DEM MORD AN 67 JUDEN AUS HEBRON VON ARABERN GESTOHLEN. Wir verlangen Gerechtigkeit! Gebt uns unser Eigentum zurück!

Zuletzt besuchten wir noch die Machpela, das Patriarchengrab, nach dem Tempelberg in Jerusalem die heiligste Stätte des Judentums, in dem die drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob sowie ihre Frauen Sara, Rebecca und Leah begraben seien sollen. Die Anlage ist aufgeteilt in eine Moshee und eine Synagoge (natürlich mit getrennten Eingängen, kugelsicherem Glas, Sicherheitskontrollen und beschränktem Eintritt für Juden und Muslime, je nachdem, auf welcher Seite man sich befindet).
Als wir hinterher noch ein bisschen draußen saßen, rief der Muezzin zum Gebet, und darüber wehte die israelische Flagge. Gefühlt etwas widersprüchlich:
Ramallah & NablusAm Abend kamen dann Christine und Annemarie aus Nes Ammim in Beit Jala an, und nachdem wir noch eine Nacht bei Faten übernachtet hatten (inzwischen war es wirklich eng geworden und wir mussten Matrazen im Wohnzimmer stapeln), machten wir uns am nächsten Morgen auf in Richtung Nablus mit Zwischenstop in Ramallah.


In Ramallah gibt es außer Arafats Grab nicht sonderlich viel zu sehen und wir verbrachten den Nachmittag damit, bei Stars & Bucks (der arabischen Version von Starbucks) überteuerten und merkwürdig gewürzten Kaffee zu trinken sowie einen arabischen Mann sehr wütend zu machen, weil wir uns für eine kurze Verschnaufpause auf den Stufen einer Moschee niedergelassen hatten.
Abends kamen wir schließlich in Nablus an und verwirrten alle Insaßen eines Baklavashops mit unserem herzlichen Wiedersehen mit Jesse, einem Amerikaner, der bis Januar Volontär in Nes Ammim war und seitdem in Nablus lebt.
Jesse, der durch das ganze Laufen in Nablus ziemlich fit geworden ist, machte mit uns noch einen kleinen Abendspaziergang durch die Altstadt (aber schnell, denn nach zehn Uhr traut er sich auch nicht mehr raus, wenn er nicht in Begleitung von Einheimischen ist) und scheuchte uns die lange lange Treppe zu seiner Wohnung hoch. Wir waren leicht deprimiert, weil er (doppelt so alt wie wir und Kettenraucher) noch genug Luft hatte, um seinen Redefluss nicht einmal zu unterbrechen, während wir ernsthafte Probleme hatten nicht zu kollabieren. Schließlich konnte er uns noch überreden, mit aufs Dach zu kommen (dessen Tür man mit einer Gabel auf und zu schließen muss), und der Ausblick lohnte sich:

Vor allem nach meiner Zeit in Bethlehem (wo die moderaten Palästinenser mit Bildung leben, die zwar nicht gut auf Israel zu sprechen sind, aber doch verhandeln wollen), war unser Aufenthalt in Nablus das absolute Kontrastprogramm: während der zweiten Intifada war Nablus völlig abgeschottet (über einen Zeitraum von sieben Monaten war insgesamt drei Monate lang eine 24-Stunden-Ausgangssperre verhängt), denn dort wurden in den engen Gassen die Bomben gebaut, und auch heute sind 13 von 15 Leuten im Stadtrat von der Hamas.
Am nächsten Morgen hatten wir zwar etwas mit dem Wetter zu kämpfen,

aber wir ließen uns trotzdem nicht davon abhalten, die
Jakobs-Quellen-Kirche sowie
Balata Refugee Camp zu besuchen. Dort wohnen vor allem Palästinenser aus Haifa und Jafo, deren Familien 1948 vertrieben wurden. Da die Leute dort inzwischen in der vierten Generation leben, stehen überall normale Häuser, auch wenn die Gassen noch enger und die Häuser noch ein bisschen schäbiger sind. Miete muss nicht gezahlt werden, aber die meisten Leute wollen auch deshalb nicht dort weg, weil damit ihre Chancen sinken würden, ihre alten Grundstücke wiederzubekommen, wenn der zionistische Staat erst einmal verschwunden ist (ihrer Meinung nach nur eine Frage der Zeit).
Unser Mittagessen nahmen wir spontan in einer Art Bäckerei in der Altstadt ein: dort befindet sich in einem schmalen Raum ein Steinofen, und Leute können ihr Essen bringen, um es dort backen zu lassen.

An der Wand hing ein großes Märtyrerposter, und bei Nachfragen stellte sich heraus, dass es sich um den Sohn des Ladenbesitzers handelte, der 2008 an einem Checkpoint erschossen worden war (angeblich, weil er MP3-Player-Kabel in den Ohren hatte, aber israelische Soldaten wissen, was ein MP3-Player ist und werden nicht einfach versuchsmäßig auf 15-Jährige schießen. Das sollte man natürlich nicht erwähnen in einem Laden voller Männer, die sich bei Erwähnung des Wortes Israel mit dem Finger über die Kehle fahren). Jesse erzählte, dass die meisten Jugendlichen, die man auf der Straße sieht, solche Fotos von sich zu Hause haben - immerhin könnte es sein, dass sie ums Leben kommen, um wie man in Europa Sänger oder Schauspieler sein möchte, möchten die Jungen dort auf Märtyrerpostern an den Häuserwänden hängen (wenn es sich schon nicht vermeiden lässt).
Nachmittags fuhren wir dann bei strahlender Sonne nach Sebastia, einem kleinen Dorf nördlich von Nablus, wo es zum Beispiel ein altes römisches Amphitheater gibt sowie die Überreste einer Kirche, wo angeblich Johannes der Täufer begraben liegen soll.


Auch wenn Jesse uns zu überreden versuchte, nicht wieder nach Nes Ammim zurückzufahren, sondern bei ihm zu bleiben (er wollte sogar einen Esel kaufen, und bei ihm weiß man nie, ob er es nicht sogar tun würde) mussten wir uns schließlich wieder auf den Rückweg machen. Die Fahrt zurück war recht abenteuerlich, was vor allem daran lag, dass der Taxifahrer, der uns von Jenin zum Jelome Checkpoint brachte, kein Wort Englisch sprach und Christines Arabisch nicht verstand, uns aber trotzdem weißzumachen versuchte, dass der Checkpoint bereits geschlossen hatten. Hatte er zwar nicht, aber der Soldat im Wachturm wollte uns nicht hinüberlassen, weil wir nicht in einem Auto saßen. Nach einer Improvisations-Theateraufführung auf Hebräisch (Verzweiflung: "Wir müssen aber heute noch nach Israel!") und gewisser Irritation über die Gruppe arabischer Taxifahrer, die uns alle zuriefen, dass wir jetzt erschossen würden, öffneten die israelischen Soldaten schließlich doch noch einen employee-checkpoint für uns, den man zu Fuß durchqueren konnte, der aber recht gruselig war. Wir schafften es jedenfalls hindurch und beeilten uns den Parkplatz zu überqueren, denn hinter uns hatte jemand mit dem Schießen angefangen und das Echo der Gewehrschüsse hallte über den Asphalt.
Als wir schließlich nach einigen Stunden Hitchhiken und Busfahren in Regba ankamen, waren die Jungs mit dem Auto nicht da, der Handyakku alle und wir verwirrt - wir waren uns nicht mehr sicher, ob wir Regba oder Nahariyya als Destination angegeben hatten. Wir hielten also das nächste Auto an, das uns nach Nes Ammim mitnehmen wollte - und waren gerade um die Ecke gebogen, als uns Matze im Bus entgegen kam. Der Autofahrer hatte bestimmt gewisse Schwierigkeiten zu verstehen, warum in aller Welt wir nach nicht einmal 600 Metern schon wieder aussteigen wollten, doch er hielt pflichtbewusst an und wir liefen zurück, um ins richtige Auto einzusteigen.