...dass man alle jüdischen Feiertage mit folgendem Sprichwort beschreiben kann: Sie wollten uns töten, wir haben überlebt, was gibt's zu essen?
Etwas bösartig vielleicht, ein gewisses Fünkchen Wahrheit ist beim Essensteil jedoch vorhanden, diesmal traf's uns leider hart. Wahrend wir zu Chanukka noch mit Sufganiot gemästet wurden, wurde unsere Ernährung während
Pessach für zwei Wochen zwangsumgestellt.
Während Pessach in Deutschland eine schöne Geschichte für den Kindergottesdienst liefert, bedeutet es in jüdischen Haushalten eine ganze Menge Arbeit: die Anweisung, auch den letzten Rest
chametz (Sauerteig) aus der Wohnung zu entfernen, klingt zwar nicht besonders kompliziert, aber wenn man ein Guesthouse mit 48 Zimmern, einer Jugendherberge, 8 Appartements, Reception & Lobby, Küche, Dining Hall SOWIE das gesamte Village Centre der Volontäre von jeglichen Brotkrümmeln und allem anderen Dreck reinigen sowie sämtliche Lebensmittel und Getränke austauschen muss, bedeutet das eine Menge Arbeit.
Außerdem kam die Masgiach (eine Frau, die für das Rabbinat arbeitet) vorbei, um das Geschirr
kosher le pessach zu machen: es wurde in Chemikalien eingelegt, im Dishwasher gewaschen, rituell im Meer gereinigt und erneut durch den Dishwasher gejagt - und glaubt mir, wir haben viel Geschirr hier, und das auch noch in doppelter Ausführung, für Mahlzeiten, die
chalaw, also Milch, und
basar (Fleisch) enthalten. Auf sämtlichen Produkten in den Läden war
kosher le pessach aufgedruckt oder eingestanzt - und war es das nicht, sollte es nicht mehr gekauft werden. In manchen Supermärkten werden ganze Regalreihen mit weißen Plastikfolien abgeklebt, damit ja keiner auf die Idee kommt, unkoshere Produkte zu kaufen.
Das alles beruht auf dem 2. Buch Mose,
Exodus, in dem die Geschichte des Auszugs aus Ägypten erzählt wird (sollte ja hoffentlich bekannt sein). Dort haben die Israeliten keine Zeit gehabt, ihren Brotteig gehen zu lassen, denn sie hatten besseres zu tun (Flucht aus der Sklaverei), und das wurde zur Regel für die folgenden Pessachfeste, währenddessen ja der Flucht gedacht wird. Dementsprechend sind alle Lebensmitteln, in denen Getreide enhalten ist, sowie Hülsenfrüchte, Reis und Mais verboten. Das bedeutete für uns: kein Brot, keine Cornflakes und keine Nudeln für zwei Wochen. Stattdessen gab es Matzebrot (erinnert an Knäckebrot, wenn man Geschmack und jeglichen Sättigungswert abzieht) und - richtig - Fleisch (sowie verkochtes Gemüse, aber das vermeiden hier sowieso alle, wenn es geht). Selbst Getränke wie Cola gab es in extra Pessachvarianten, die zwar in Farbe und Konsistenz keinen großen Unterschied aufwiesen, jedoch allen Geschmack verloren hatten.
Es rückte also eine Zeit voller Arbeit an - volles Haus, 8 Tage lang ohne Unterbrechung, die Räume bis zum Bersten gefüllt. Die Masse an Gästen konnte sich auf dem weitlaufigen Grundstück sowie dem Guesthouse kaum verteilen: betraten wir die Chader Ochel, den Speiseraum der Volontäre: Gäste. Betraten wir den Bunker im Village Centre (der Volontäre): Gäste. Saßen wir vor unseren Baracken: spielende Gästekinder.
Einen Tag vor Pessach war ich mit einer miesen Blasenentzündung zum Arzt geschickt worden, und auch als ich ihr besorgt mitteilte, dass ich Antiobiotika nicht besonders gut vertrage, war sie nicht aus der Ruhe zu bringen und meinte nur:
Besseder, ich verschreibe Ihnen ganz gut verträgliche. Die waren dann auch so gut verträglich, dass ich die nächsten acht Tage ausgeknockt auf dem Sofa vor meiner Baracke verbrachte, mit sämtlichen Nebenwirkungen außer dem Haarausfall und den permanenten neurologischen Schäden sowie dem Lungenkollaps.
Trotzdem quälte ich mich an Tag 1 der Einnahme noch zur Arbeit, es war
Erev Pessach, also der Pessach-Auftakt-Tag, an dem alle Gäste anreisten. Der Erev Pessach ist der Sederabend, kurz Seder, an dem besonders des Auszugs aus Ägypten gedacht wird. Dafür gibt es einen genau vorgeschriebenen Ablauf, der in einem bestimmten Heftchen, der
Haggada, abgedruckt ist, denn er ist ziemlich lang (viele säkulare bzw sehr liberale Familien brechen ihn einfach in der Mitte ab, wenn der Hunger zu groß wird). Es werden Texte über die Gefangenschaft der Israeliten in Ägypten und ihre Flucht vorgelesen, sowohl biblische als auch solche aus der rabbinischen Tradition (Rabbi Eliezer, Rabbi Joshua, Rabbi Eleazar, Rabbi Akeeba und Rabbi Tarpon sind übrigens nur einige von ihnen). Irgendwann flüchtete ich mich dann vor einem Haufen Kinder, die ein Stück des Matzebrotes, das sogenannte Afikoman, verstecken wollten, in mein Bett, wahrend im Dishwasher mit zehn Leuten noch bis zwei Uhr morgens abgespült wurde.
Jetzt sind die Gäste jedenfalls wieder abgereist, wir bekommen normales Brot in der Chader Ochel (auch wenn die Qualität des Mittagessens beständig weiter sinkt) und sind damit beschäftigt, die Dinge zu ordnen, die hier während Pessach vergessen wurden. Bisheriger Platz 1: die Perücke einer religiösen Frau, denn es ist unkeusch, wenn Männer ihre echten Haare sehen.