Dienstag, 9. November 2010

Warten ist was für Erwachsene.

Demnach muss ich leider feststellen, dass ich tatsächlich das Erwachsenenalter erreicht habe. Das Bildungs- oder Kultus- oder irgendein anderes Ministerium veranstaltet nämlich mehrmals pro Jahr Seminare für deutsche Volontäre, die in Israel leben, und auch wir in Nes Ammim fanden dafür eine Einladung in der Postbox. Weil ich mich aber ungefähr einen halben Tag zu spät angemeldet habe, stand ich dann nur auf der Warteliste (bahh), und als dann ein paar Tage vor Seminarbeginn immer noch kein mysteriöses Massensterben unter akzeptierten Volontären eingesetzt hatte, beschlossen Augustin (der wohl ebenfalls schon erwachsen ist) und ich, die freien Tage zu nutzen und nach Tel Aviv zu fahren.
Natürlich hatte sich die israelische Bahn genau wieder diese Tage ausgesucht, um an den Schienen zu arbeiten (erneut, und nie merkt man hinterher etwas davon), darum war der Zugverkehr stark eingeschränkt, und selbst für den Ersatztransport nach Kiryat Motzkin, dem nächsten Bahnhof in Betrieb, gab es Ersatztransport, sodass wir noch einmal in Hamifratz und in Hof HaKarmel den Bus wechseln mussten. Schließlich schafften wir irgendwann gegen Mitternacht, den dem Busbahnhof nächstgelegenen Bahnhof in Tel Aviv zu erreichen, aber natürlich fuhren dann keine Busse mehr. Wir zockelten also noch durch das nächtliche Tel Aviv und erreichten schließlich ein Youth Hostel, das direkt am Strand lag (zugegebenerweise war das nachts nicht mehr festzustellen). Als ich am nächsten Morgen in meinem Etagenbett im Schlafsaal aufwachte, stelle ich zwei Dinge fest:
Erstens war ich das einzige Mädchen im Zimmer, und zweitens befand sich ungefähr die Hälfte der Männer draußen auf dem Balkon, um unter Anleitung von Vaughn, dem Fitnesstrainer aus Südafrika, laut schnaufend und schwitzend ihre Liegestützenfähigkeiten zu verbessern. Wenigstens wissen diese Leute, wo die Duschen im Haus zu finden sind, und so konnten wir uns eine Stunde später (nach trocken Toast mit Instant-Kaffee) auf den Weg machen, an der Strandpromenade entlang nach Jaffa.



Tel Aviv scheint dem Schönheitswahn verfallen, viele Menschen sieht man zwar tagsüber nicht, aber dafür gibt es auf allen Spielplätzen Fitnessgeräte für Kinder. Früh übt sich eben.
An sich hat Tel Aviv erstaunlich wenig zu bieten an Museen oder Sehenswürdigkeiten, aber wenn man nicht den Bus nimmt, lässt's sich aushalten, denn der Kontrast von relativ beschaulichen Vierteln und dem Wolkenkratzer darüber, sobald man den Kopf hebt, ist doch beeindruckend. Wir liefen jedenfalls. Und liefen. Die gesamte Promenade hinunter nach Jaffa, bis hinunter zum Hafen, durch Neve Tzedek wieder in die Stadtmitte und noch weiter nach oben, bis zum Dizzengoff Centre, und dann wieder runter, die Rezeption des Hostels, in dem wir übernachten wollten, hatte nämlich abends geöffnet (und befand sich im vierten Stock, aber das wussten wir zum Glück noch nicht, als die Tür summend aufsprang). Jedenfalls fanden wir einen wirklich guten Falafel-Stand, an dem es sogar umsonst Pommes als Beilage gab ("Berlin, Berlin, here, for you!") und fanden schließlich bei unserem ausgedehnten nächtlichen Spaziergang heraus, dass orthodoxe Juden nach Einbruch der Dunkelheit gern Kinderspielplätze aufsuchen. Auf dem Rückweg trafen wir auch noch einen betrunkenen Deutschen, denn Schalke hatte an diesem Abend gegen Tel Aviv gespielt (0:0). Wir tauschten ein paar Höflichkeitsfloskeln aus und stellten fest, dass wir den deutschen Humor ("Wo wohnt ihr? Wie lange seid ihr schon hier? Ich muss leider eure Reisepässe sehen. - HAHAH! SCHERZ!") gar nicht vermisst hatten in den letzten vier Monaten.
Am nächsten Morgen hatten wir uns mit Matze und Sven verabredet, die es ins Seminar geschafft hatten und an diesem Morgen in Tel Aviv weilten. Natürlich verschliefen wir (es sei nur soviel gesagt: es war NICHT meine Schuld) und mussten uns doch dafür entscheiden, ein Taxi zu bemühen. Natürlich gerieten wir an den einzigen Taxifahrer, der kein Englisch konnte, weder den Rabin-Square noch die City Hall kannte, vor jedem Zebrastreifen pflichtbewusst bremste und mit uns auf Hebräisch über deutsche Autos und Al-Quaida diskutierte. Wir kamen eine halbe Stunde zu spät an, und Matze und Sven hatten tatsächlich draußen auf uns gewartet, um uns möglichst schnell in den elften Stock hochzubugsieren. Dort hatten wir ein Gespräch über israelische Politik mit einer Frau, von der ich immer noch nicht genau weiß, wer sie war, weil wir die Vorstellung verpasst hatten, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie zu einer linken israelischen Partei gehörte. Sie hat zum Beispiel erzählt, dass an israelischen Universitäten und Schulen immer mehr darauf geachtet wird, dass die Lehrenden nichts falsches erzählen: "Natürlich besteht Lehrfreiheit, aber nur, solange keine antizionischistischen Meinungen geäußert werden". Danach versammelten wir uns noch auf dem Rabin-Square (Rabin war der israelische Ministerpräsident, der sich sehr für den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern eingesetzt hat (er hat 1994 sogar den Friedensnobelpreis verliehen bekommen, zusammen mit Peres und Arafat), und dafür wurde er dann am vierten November 1995 während einer Friedenskundgebung auf dem damaligen Platz der Könige Israels von einem fundamentalistischen Juden erschossen).
Während dann die Seminar-Gruppe weiter Richtung Westbank fuhr, verbrachten wir tatsächlich noch den Nachmittag am Strand. Es ist hier nämlich noch warm im November. Gut, nur solange die Sonne da ist, aber als die unterging, machten wir uns auch wieder auf den Rückweg nach Nes Ammim.



Der nahm dann auch über sechs Stunden in Anspruch, und als wir um zehn Uhr in Regba aus dem Bus kletterten, hatten alle Menschen in Nes Ammim beschlossen, nicht an ihr Handy zu gehen, damit wir auch niemandem mitteilen konnte, dass wir gerne abgeholt worden würden. Wir stapften also los, durch Regba hindurch, und als wir am anderen Dorfende ans Tor kamen, öffnete es sich (natürlich nicht). Wir versuchten alles (in die Kamera winken, den Zaun nach Löchern absuchen, mit vollem Tempo auf das Tor zulaufen, We shall overcome singen). Es blieb uns nichts anderes übrig, wir mussten wieder zurücklaufen und dann noch einmal ganz außen rum. Die verbleibende Stunde Fußweg brachten wir also mit dem Nacherzählen von Horrorfilmen, in denen es um einsame Straßen im dunklen Feld geht (ganz schlechte Idee) sowie angestrengtem Gegrübel, warum wir den Großen Wagen nicht am Himmel finden konnten (vermutlich hat er Orion überfahren und anschließend Fahrerflucht begangen, aber die Hypothese konnten wir nicht mehr bestätigen). In dieser Zeit bretterten drei Autos (einschließlich der Polizei, Freund & Helfer, haha) an uns vorbei, ohne unsere verzweifelten Versuche, auf unseren Hitchhiking-Wunsch aufmerksam zu machen, zu beachten. Wären wir Soldaten gewesen, wäre das vermutlich einfacher gegangen, Israel ist das einzige Land, in dem dich die Leute bereitwilliger mitnehmen, wenn du ein Maschinengewehr dabei hast. Aber, wie man so schön sagt: Es wird alles gut, wenn man nur lange genug wartet. Wir warteten ziemlich lange, aber ungefähr 800 Meter vor Nes Ammim erbarmte sich einer unserer Mieter, packte alle Kindersitze in den Kofferraum und fuhr uns direkt bis vor die Haustür.

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